Mittwoch, 31. Januar 2018

Gerhard Durlacher


Ertrinken – eine Kindheit am Abgrund





Porträt Gerhard Durlachers 



von Angelika Schindler

Ertrinken“ beginnt mit einem Märchen im Theater. Aber nicht nur auf der Bühne scheint es stattzufinden, schon der Weg dorthin ist für den sechsjährigen Gerhard wie ein Märchen: noch nie hat er das Gebäude in festlicher Abendbeleuchtung gesehen und nun wirkt das Lichtermeer im Schneegestöber noch viel geheimnisvoller. 

Und dennoch: gleich im ersten Absatz des Buches erfährt der Leser, dass es einen Feind gibt. Er verkauft zwar an Juden, aber er ist ihnen nicht wohlgesonnen. Der Junge spürt: er muss auf der Hut sein und der Leser ist es mit ihm. Er fürchtet, dass dem Kind, das sich so sehr auf den ersten Theaterabend seines Lebens freut, etwas zustoßen könnte. Weihnachten 1932 steht vor der Tür. Mehr als fünf Jahrzehnte später erscheint in Holland Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken“. Inzwischen ist er ein anerkannter Soziologe an der Universität Amsterdam. In „Ertrinken“ blickt er zurück und erzählt aus der Perspektive des kleinen Jungen, der so gerne zu Hause auch einen Weihnachtsbaum gehabt hätte wie alle anderen.
Überall begegnet ihm eine Welt voller Gefahren.

Als jüdisches Kind wird er schon am ersten Schultag von der Klassengemeinschaft abgesondert. Der tägliche Schulweg durch die Stephanienstraße zur Vincentischule wird immer mehr zum Angstweg.

Immer wieder muss er Abschied nehmen - von seinem christlichen Kindermädchen, bei dem er sich geborgen und aufgehoben fühlte, von seinem Klassenkameraden Harro, der nicht mehr mit ihm die Schulbank teilen darf, oder von seiner Hündin Senta, die wegen der bevorstehenden Auswanderung eingeschläfert werden muss. 
 
Es ist nicht nur eine gestohlene Kindheit, sondern eine zerstörte Kindheit voll traumatischer Erfahrungen: „Nirgends war es warm und sicher“, Die Nerven der Eltern liegen ständig blank, denn sie müssen Entscheidungen treffen, die sie überfordern. Im nationalsozialistischen Baden-Baden bleiben oder gehen? Aber wohin? Gerhard ist noch zu klein, um die Zusammenhänge zu verstehen, aber er spürt die Bedrohung um ihn herum und sie frisst sich tief in seine Seele.
1937 flüchtet die Familie nach Holland. „Mein Zuhause fort, mein Zimmer fort, mein Hund fort, mein Spielzeug fort, fort, fort, alles fort“ schreibt er im letzten Kapitel.

Ertrinken“ – so hat Gerhard Durlacher sein Buch über diese Kindheit in Baden-Baden genannt, die sein ganzes Leben überschattete. Ängste begleiteten ihn viele Lebensjahre und er zieht ein bitteres Fazit: „Unzählige Deutsche, gleichgültig oder vor Angst gelähmt, sahen uns direkt vor ihren Augen ertrinken. Nur einzelne Mutige retteten einen Ertrinkenden aus den Fluten.“

In Rotterdam und Apeldoorn kann der inzwischen 9jährige Gerhard Durlacher ein kleines Stück Kindheit nachholen – fröhliche Fotos aus dieser Zeit lassen das kurze Aufatmen spüren, auf einem ist er mit einem neuen Hund zu sehen. 
Doch seine Jugendjahre verbringt er im KZ: 1942 werden Durlachers in das holländische Sammellager Westerbork deportiert, Gerhard ist jetzt 14 Jahre alt. Zwei Jahre später wird die Familie weiter nach Theresienstadt verschleppt, von dort aus in die Vernichtungslager im Osten. Nur Gerhard überlebt die Zeit in Auschwitz und einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Im Februar 1945 wird es von Russen befreit, gerade noch rechtzeitig: Gerhard liegt todkrank im Lager und braucht dringend medizinische Versorgung. Erst Wochen später kann er sich auf den Weg in den Westen machen. Über Umwege gelangt er nach Prag und erhält dort seine ersten Papiere: “Ich bin ein Mensch mit einem Namen“!
 
Er kehrt nach Holland zurück, aber das Leben nach dem Überleben ist hart. Ehemalige Nachbarn sind abweisend. Und auch bei seinen Verwandten fühlt er sich nicht willkommen. Sie sind überfordert, als Gerhard vor der Tür steht, denn sie selbst mussten untertauchen, leben jetzt beengt in einem Provisorium und sorgen sich um das Schicksal weiterer Verwandter.

Wunderbare Menschen

Aber es gibt auch Menschen, bei denen er Unterschlupf und Geborgenheit finden kann: die Witwe eines Widerstandskämpfers, bei der der 17jährige ein Zimmer mietet, und Lehrer, die dafür sorgen, dass der Junge die verpassten Schuljahre nachholen kann. Das Lernen lenkt Gerhard von seinen furchtbaren Erinnerungen ab. 
Er verbannt sie immer mehr in einen Panzerschrank: ein Schrank, in dem die Erinnerung besonders fest verschlossen ist und den er Jahrzehnte nicht mehr öffnet. Er muss vergessen, um weiterleben zu können, aber sein Panzerschrank wird mit der Zeit brüchig. Als Gerhard Durlacher seinem Beruf immer weniger nachgehen kann, weil er ständig krank ist, wendet er sich an einen Psychotherapeuten.

Ganz langsam kehrt die Erinnerung zurück und er merkt, dass er das Erinnern doch braucht und auch das Schreiben, um zu überleben. „Jetzt, nach fast vierzig Jahren, fällt dann und wann ein Archivblatt aus dem Panzerschrank meines versunkenen Gedächtnisses“ notiert er in seinem ersten autobiografischen Buch „Streifen am Himmel“, das 1987 in Holland erscheint. 


Was hilft zu überleben? 

Die Kondensstreifen der Bomber über Auschwitz ließen die Häftlinge hoffen und nach ihnen benennt er sein erstes Buch, in dem er die Apokalypse beschreibt.
Wunderbare Menschen geben ihm immer wieder Kraft und ihnen widmet er sein drittes Buch „Wunderbare Menschen“. 
Da ist z.B. der Mathematiklehrer Herr Logemann, der 1942 zur Polizeistation von Apeldoorn hastet. Dort warten die verhafteten Durlachers auf ihre Deportation nach Westerbork. Er weiß nicht, was er sagen soll, gibt Gerhard ein Mathematikbuch und murmelt, dass es ihm vielleicht helfen kann. Seine Anteilnahme, die in dieser hilflosen Geste zum Ausdruck kommt, vergisst Gerhard nie. Es sind Menschen wie er, die die nötige Kraft geben, um zu überleben, und diese Menschen braucht er auch nach seiner Rückkehr, selbst noch Jahre später.

Was half seinen Leidensgenossen zu überleben und das Leben nach dem Überleben zu meistern? Dieser Frage geht Gerhard Durlacher in seinem vierten Buch „Die Suche“ nach. Dazu reist er nach Israel und in die USA, um die in alle Welt zerstreuten einstigen Kameraden aus dem Lager wiederzufinden und zu befragen.

Bei manchen hilft der Gedanke, das Gesehene weiterzugeben, Zeugnis abzulegen. Das tut Gerhard Durlacher nun 40 Jahre später. Seine drei Töchter erfahren vom Schicksal des Vaters erst jetzt durch die Lektüre seiner Bücher. Als sie Kinder waren, fragten sie nach den Großeltern und bekamen keine richtige Antwort. Sie wunderten sich, dass der Vater manchmal so jähzornig und unberechenbar war. Sie spürten, dass es etwas Bedrohliches in seinem Leben gab und deshalb gab es das auch in ihrem. Es war ein Schweigen, das ohrenbetäubend war.

Wenn ich an Gerhard denke, habe ich das Bild einer Eiche vor mir, in die ein Blitz gefahren ist und sie gespalten hat. Es gibt den starken, klugen, witzigen Gerhard, aber auch den Gerhard, dessen Leben im Schatten der Vergangenheit steht.“ So sieht ihn seine Frau Anneke im Rückblick.

Ja, es dauerte also Jahrzehnte, bis Gerhard Durlacher zu schreiben begann und seine - inzwischen mehrfach preisgekrönten - autobiografischen Schriften verfasste.

Auch seine Tochter, die holländische Schriftstellerin Jessica Durlacher, beschäftigt sich in ihren Romanen u.a. mit der Frage, wie man ein neues Leben nach einer Jugend in Auschwitz beginnen kann und welche Auswirkungen der Holocaust für die nachfolgende Generation hat. Sie und ihre Mutter Anneke kommen zu uns am 8. Mai 2018 - an dem Tag an dem vor 73 Jahren das Naziregime ein Ende fand.

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Angelika Schindler von der Aktion Stolpersteine hielt diesen Vortrag anlässlich der großen Auftaktveranstaltung der Aktion "Baden-Baden liest/schreibt ein Buch" am 25. Januar 2018 im Gymnasium Hohenbaden, bei der Gerhard Durlachers Buch "Ertrinken" offiziell vorgestellt wurde. Sie fungiert als Herausgeberin des Buches, das für die stadtweite Mitmach-Aktion des Bündnisses "Baden-Baden ist bunt" als Sonderedition neu aufgelegt und gedruckt wurde. Sie ist Redakteurin beim deutsch-französischen Sender ARTE und Autorin eines Buches über die Geschichte der Juden in Baden-Baden "Der verbrannte Traum. Jüdische Bürger und Gäste in Baden-Baden". Außerdem ist sie Motor der Schreibworkshops, die der Arbeitskreis Stolpersteine anbietet. 




Hier geht es zum Bericht über die Auftaktveranstaltung  => KLICK
Hier geht es zur Ankündigung der Schreibworkshops, die in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule und der Landeszentrale für politische Bildung angeboten werden => KLICK