Ertrinken
– eine Kindheit am Abgrund
Porträt Gerhard Durlachers
von
Angelika Schindler
„Ertrinken“
beginnt mit einem Märchen im Theater. Aber nicht nur auf der Bühne
scheint es stattzufinden, schon der Weg dorthin ist für den
sechsjährigen Gerhard wie ein Märchen: noch nie hat er das Gebäude
in festlicher Abendbeleuchtung gesehen und nun wirkt das Lichtermeer
im Schneegestöber noch viel geheimnisvoller.
Und dennoch:
gleich im ersten Absatz des Buches erfährt der Leser, dass es einen
Feind gibt. Er verkauft zwar an Juden, aber er ist ihnen nicht
wohlgesonnen. Der Junge spürt: er muss auf der Hut sein und der
Leser ist es mit ihm. Er fürchtet, dass dem Kind, das sich so sehr
auf den ersten Theaterabend seines Lebens freut, etwas zustoßen
könnte. Weihnachten 1932 steht vor der Tür. Mehr als fünf
Jahrzehnte später erscheint in Holland Gerhard Durlachers Buch
„Ertrinken“. Inzwischen ist er ein anerkannter Soziologe an der
Universität Amsterdam. In „Ertrinken“ blickt er zurück und
erzählt aus der Perspektive des kleinen Jungen, der so gerne zu
Hause auch einen Weihnachtsbaum gehabt hätte wie alle anderen.
Überall
begegnet ihm eine Welt voller Gefahren.
Als jüdisches Kind wird
er schon am ersten Schultag von der Klassengemeinschaft abgesondert.
Der tägliche Schulweg durch die Stephanienstraße zur Vincentischule
wird immer mehr zum Angstweg.
Immer
wieder muss er Abschied nehmen - von seinem christlichen
Kindermädchen, bei dem er sich geborgen und aufgehoben fühlte, von
seinem Klassenkameraden Harro, der nicht mehr mit ihm die Schulbank
teilen darf, oder von seiner Hündin Senta, die wegen der
bevorstehenden Auswanderung eingeschläfert werden muss.
Es
ist nicht nur eine gestohlene Kindheit, sondern eine zerstörte
Kindheit voll traumatischer Erfahrungen: „Nirgends war es warm und
sicher“, Die Nerven der Eltern liegen ständig blank, denn sie
müssen Entscheidungen treffen, die sie überfordern. Im
nationalsozialistischen Baden-Baden bleiben oder gehen? Aber wohin?
Gerhard ist noch zu klein, um die Zusammenhänge zu verstehen, aber
er spürt die Bedrohung um ihn herum und sie frisst sich tief in
seine Seele.
1937
flüchtet die Familie nach Holland. „Mein Zuhause fort, mein Zimmer
fort, mein Hund fort, mein Spielzeug fort, fort, fort, alles fort“
schreibt er im letzten Kapitel.
„Ertrinken“
– so hat Gerhard Durlacher sein Buch über diese Kindheit in
Baden-Baden genannt, die sein ganzes Leben überschattete. Ängste
begleiteten ihn viele Lebensjahre und er zieht ein bitteres Fazit:
„Unzählige Deutsche, gleichgültig oder vor Angst gelähmt, sahen
uns direkt vor ihren Augen ertrinken. Nur einzelne Mutige retteten
einen Ertrinkenden aus den Fluten.“
In
Rotterdam und Apeldoorn kann der inzwischen 9jährige Gerhard
Durlacher ein kleines Stück Kindheit nachholen – fröhliche Fotos
aus dieser Zeit lassen das kurze Aufatmen spüren, auf einem ist er
mit einem neuen Hund zu sehen.
Doch seine Jugendjahre verbringt er
im KZ: 1942 werden Durlachers in das holländische Sammellager
Westerbork deportiert, Gerhard ist jetzt 14 Jahre alt. Zwei Jahre
später wird die Familie weiter nach Theresienstadt verschleppt, von
dort aus in die Vernichtungslager im Osten. Nur Gerhard überlebt die
Zeit in Auschwitz und einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. Im
Februar 1945 wird es von Russen befreit, gerade noch rechtzeitig:
Gerhard liegt todkrank im Lager und braucht dringend medizinische
Versorgung. Erst Wochen später kann er sich auf den Weg in den
Westen machen. Über Umwege gelangt er nach Prag und erhält dort
seine ersten Papiere: “Ich bin ein Mensch mit einem Namen“!
Er
kehrt nach Holland zurück, aber das Leben nach dem Überleben ist
hart. Ehemalige Nachbarn sind abweisend. Und auch bei seinen
Verwandten fühlt er sich nicht willkommen. Sie sind überfordert,
als Gerhard vor der Tür steht, denn sie selbst mussten untertauchen,
leben jetzt beengt in einem Provisorium und sorgen sich um das
Schicksal weiterer Verwandter.
Wunderbare
Menschen
Aber
es gibt auch Menschen, bei denen er Unterschlupf und Geborgenheit
finden kann: die Witwe eines Widerstandskämpfers, bei der der
17jährige ein Zimmer mietet, und Lehrer, die dafür sorgen, dass der
Junge die verpassten Schuljahre nachholen kann. Das Lernen lenkt
Gerhard von seinen furchtbaren Erinnerungen ab.
Er verbannt sie
immer mehr in einen Panzerschrank: ein Schrank, in dem die Erinnerung
besonders fest verschlossen ist und den er Jahrzehnte nicht mehr
öffnet. Er muss vergessen, um weiterleben zu können, aber sein
Panzerschrank wird mit der Zeit brüchig. Als Gerhard Durlacher
seinem Beruf immer weniger nachgehen kann, weil er ständig krank
ist, wendet er sich an einen Psychotherapeuten.
Ganz
langsam kehrt die Erinnerung zurück und er merkt, dass er das
Erinnern doch braucht und auch das Schreiben, um zu überleben.
„Jetzt, nach fast vierzig Jahren, fällt dann und wann ein
Archivblatt aus dem Panzerschrank meines versunkenen Gedächtnisses“
notiert er in seinem ersten autobiografischen Buch „Streifen am
Himmel“, das 1987 in Holland erscheint.
Was
hilft zu überleben?
Die
Kondensstreifen der Bomber über Auschwitz ließen die Häftlinge
hoffen und nach ihnen benennt er sein erstes Buch, in dem er die
Apokalypse beschreibt.
Wunderbare
Menschen geben ihm immer wieder Kraft und ihnen widmet er sein
drittes Buch „Wunderbare Menschen“.
Da ist z.B. der
Mathematiklehrer Herr Logemann, der 1942 zur Polizeistation von
Apeldoorn hastet. Dort warten die verhafteten Durlachers auf ihre
Deportation nach Westerbork. Er weiß nicht, was er sagen soll, gibt
Gerhard ein Mathematikbuch und murmelt, dass es ihm vielleicht helfen
kann. Seine Anteilnahme, die in dieser hilflosen Geste zum Ausdruck
kommt, vergisst Gerhard nie. Es sind Menschen wie er, die die nötige
Kraft geben, um zu überleben, und diese Menschen braucht er auch
nach seiner Rückkehr, selbst noch Jahre später.
Was
half seinen Leidensgenossen zu überleben und das Leben nach dem
Überleben zu meistern? Dieser Frage geht Gerhard Durlacher in seinem
vierten Buch „Die Suche“ nach. Dazu reist er nach Israel und in
die USA, um die in alle Welt zerstreuten einstigen Kameraden aus dem
Lager wiederzufinden und zu befragen.
Bei
manchen hilft der Gedanke, das Gesehene weiterzugeben, Zeugnis
abzulegen. Das tut Gerhard Durlacher nun 40 Jahre später. Seine drei
Töchter erfahren vom Schicksal des Vaters erst jetzt durch die
Lektüre seiner Bücher. Als sie Kinder waren, fragten sie nach den
Großeltern und bekamen keine richtige Antwort. Sie wunderten sich,
dass der Vater manchmal so jähzornig und unberechenbar war. Sie
spürten, dass es etwas Bedrohliches in seinem Leben gab und deshalb
gab es das auch in ihrem. Es war ein Schweigen, das ohrenbetäubend
war.
„Wenn
ich an Gerhard denke, habe ich das Bild einer Eiche vor mir, in die
ein Blitz gefahren ist und sie gespalten hat. Es gibt den starken,
klugen, witzigen Gerhard, aber auch den Gerhard, dessen Leben im
Schatten der Vergangenheit steht.“ So sieht ihn seine Frau Anneke
im Rückblick.
Ja,
es dauerte also Jahrzehnte, bis Gerhard Durlacher zu schreiben begann
und seine - inzwischen mehrfach preisgekrönten - autobiografischen
Schriften verfasste.
Auch
seine Tochter, die holländische Schriftstellerin Jessica Durlacher,
beschäftigt sich in ihren Romanen u.a. mit der Frage, wie man ein
neues Leben nach einer Jugend in Auschwitz beginnen kann und welche
Auswirkungen der Holocaust für die nachfolgende Generation hat. Sie
und ihre Mutter Anneke kommen zu uns am 8. Mai 2018 - an dem Tag an
dem vor 73 Jahren das Naziregime ein Ende fand.
*
Angelika Schindler von der Aktion Stolpersteine hielt diesen Vortrag anlässlich der großen Auftaktveranstaltung der Aktion "Baden-Baden liest/schreibt ein Buch" am 25. Januar 2018 im Gymnasium Hohenbaden, bei der Gerhard Durlachers Buch "Ertrinken" offiziell vorgestellt wurde. Sie fungiert als
Herausgeberin des Buches, das für die
stadtweite Mitmach-Aktion des Bündnisses "Baden-Baden ist bunt" als Sonderedition
neu aufgelegt und gedruckt wurde. Sie ist Redakteurin beim deutsch-französischen Sender ARTE und Autorin eines Buches über die Geschichte der Juden in Baden-Baden "Der verbrannte Traum. Jüdische Bürger und Gäste in Baden-Baden". Außerdem ist sie Motor der Schreibworkshops, die der Arbeitskreis Stolpersteine anbietet.
Hier geht es zum Bericht über die Auftaktveranstaltung => KLICK
Hier geht es zur Ankündigung der Schreibworkshops, die in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule und der Landeszentrale für politische Bildung angeboten werden => KLICK