Heiß und stickig - unvergesslich!
Lesung unter dem Kirchendach
Es
war heiß. Es war stickig. Es war staubig. Es war beklemmend. „Das
soll so sein“, erklärte Pfarrer Michael Teipel, und recht hatte er! "Hoch über den Dächern steigt die Angst", hatte er seine Aktion genannt, und damit spielt er auf die Situation verfolgter Menschen an, die sich gerade im Dritten Reich oft auf Dachböden versteckten. Hier konnte man sich zwar sicher fühlen, war aber extremen Beschwernissen ausgesetzt, nicht nur der brütenden Hitze im Sommer und der klirrenden Kälte im Winter. Und wenn man entdeckt wurde, saß man in der Falle. Nachfühlen konnte man all dies bei seiner Lesung unter dem Kirchendach – eine Aktion im Rahmen des
stadtweiten Projekts „Eine Stadt liest ein Buch – Gerhard
Durlacher: Ertrinken“.
Da geht es gleich rauf... Pfarrer Teipel vor der Stiftskirche |
In
diesem Buch beschreibt Durlacher seine eigenen Erlebnisse als Kind in
Baden-Baden zum Beginn des Dritten Reiches – und Pfarrer Teipel
griff diesen Faden mit seiner eindringlichen Lesung unter dem Dach
der Stiftskirche am Marktplatz überaus realistisch auf. Trotz der Hitze war die Veranstaltung ausgebucht.
Wie
Stufen waren es bis nach oben? Das hat sicher niemand gezählt, alle
25 Zuhörer waren froh, als sie oben waren. Was für ein Weg das war! Über eine enge Wendeltreppe, über einen Mittelboden, vorbei am
Uhrwerk weiter zwei Stiegen hinauf bis unters Gebälk.
Draußen
war es waren 30 Grad – drinnen, nun, das kann sich jeder vorstellen.
So konnten es sich die Teilnehmer am eigenen Leib plastisch ausmalen, wie es unter der
Naziherrschaft vielen jüdischen Kindern und ihren Familien erging, denen so mancher Dachboden als einziger sicherer (oder auch nur vorübergehend sicherer) Schutz blieb.
Texte Durlachers und anderer Kinder, so Roald
Hoffmann und Anne Frank, beschreiben eindringlich, was es gerade für die
Kinder bedeutete, über Wochen, Monate, Jahre eingesperrt zu leben: Essen,
trinken, Toilette, herumtoben, sich ausprobieren, laut lachen...
nichts war richtig möglich. Die eine lebte sich im Schreiben eines Tagesbuches aus,
der andere in akribischen Beschreibungen seiner Welt, wie er sie
durch die Lamellen der Fensterläden sah oder wie sie ihm die Mutter
anhand von Landkarten schilderte und ihn das auswendig lernen ließ. Hier der Link zu Vita und den Texten von Roald Hoffmann => KLICK
Ja,
unterm Kirchendach, auf mehr oder weniger bequemen Hockern in der
Gluthitze, wurde schon eine dreiviertel Stunde zur Qual. Umso mehr
wurde man von den Texten ergriffen, die Pfarrer Teipel ausgewählt
hatte.
Heute
müsse sich zum Glück niemand mehr verstecken, gab er den Zuhörern
mit auf den Heimweg, und ein Blick aus den kleinen vergitterten
Dachluken entschädigte dann schnell für die Strapazen.
Ein
unvergessliches Erlebnis – darin waren sich alle Teilnehmer einig.
Die nächste Aktion im Rahmen von "Baden-Baden liest..." ist am Samstag, 4. August, um 10 Uhr eine Marathonlesung vor der Buchhandlung Straß. Der Verein Leselust wird dann Gerhard Durlachers gesamtes Buch "Ertrinken" vorlesen. Einen Tag danach, am 5. August, gibt es ab 11 Uhr einen historischen Stadtspaziergang im Rahmen der Baden-Badener Sommerdialoge. Auch im September sind weitere Aktionen geplant.