Sonntag, 17. Juni 2018

Theater


Stadtspaziergang auf Durlachers Spuren
Es blieb einem das Wort im Hals stecken...

Man kann sie noch so oft lesen oder hören – die Passagen in Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken“ gehen immer unter die Haut. Selbst die Intendantin des Theaters, die ja großes Schauspiel auf der Bühne gewohnt ist, zeigte sich sichtlich berührt, als sie auf ihrem Stadtspaziergang an den Schauplätzen des Buches ausgewählte Kapitel vorlas.


Intendantin Nicola May (rechts) mit Chefdramaturgin Kekke Schmidt beim Stadtspaziergang vor dem Holocaust-Mahnmal.

Die Szene beim Silvester-Ball hat es in sich, und da ging bei Nicola May nichts mehr: Fassungslos musste sie einen Moment pausieren, um sich wieder zu sammeln. Und ihren Zuhörern erging es nicht anders!

Es waren nur – oder sagen wir, für einen sommerlichen Samstagnachmittag bei laufender Fußball-Weltmeisterschaft doch erstaunliche viele? – knapp 20 Interessierte, die dem unübersehbaren Schild des Stadtspaziergangs folgten. Die Aktion des Theaters war Teil der Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest ein Buch“, die auf Initiative des Bündnisses „Baden-Baden ist bunt“ schon seit Wochen und noch für Monate die ganze Stadt bewegt. Zahlreiche Kooperationspartner unterstützen dieses Projekt und beteiligen aktiv daran.




Beginn des Theater-Spaziergangs war in der Vincenti-Schule, die – bereits 1933! – sehr schnell in „Adolf-Hitler-Volksschule“ umbenannt worden war. Ein Name, der übrigens immer noch fest über dem Eingang eingemeißelt ist und bis heute zu sehen wäre, hätte man nicht den neuen Namen „Vincenti-Schule“ darübermontiert. Schulleiter Werner Schmall ließ es sich nehmen, dem Theater und dem interessierten Publikum die Schule aufzuschließen. 


 

Im Eingangsbereich gibt es eine kleine Ausstellung zu sehen, eigentlich für die 125-Jahr-Feier der Schule im vergangenen Jahr zusammengestellt, aber so ganz fertig ist sie noch nicht. Gerade „neuere“ Informationen seien schwer zu recherchieren, klagte Schmall. Immerhin hat er inzwischen die Zeit nach 1933, unter dem Titel „Als jüdisches Kind in der Adolf-Hitler-Schule“ ergänzt, aber die Namen der Nazi-Schergen? Fehlanzeige. Oberlehrer Kreis jedenfalls, der im Buch vorkommt, kam eine sehr ambivalente Rolle zu. Einerseits war er mitfühlend und vorsichtig, andererseits fehlte ihm auch der Mut, sich offen gegen das Regime zu stellen.



Was dem Erstklässler Gerhard Durlacher an seinem ersten Schultag in dieser Schule widerfuhr und was und wie alles wenig später durch seine Klassenkameraden eskalierte, das ließ Nicola May in ihrer Lesung noch einmal aufleben.

Auf dem Weg zur zweiten Station passierte man das Holocaust-Mahnmal, um dann am Bismarck-Denkmal, im Angesicht der früheren Möbelhandlung von Gerhard Durlachers Großeltern (im Gebäude der heutigen Nordsee-Filiale) zu erfahren, wie perfide jüdischen Gästen auf dem großen Silvesterball 1932/33 mitgespielt wurde.

 

Im Theater, wie passend!, die Szene aus Peterchens Mondfahrt, die genau da spielte, wo die Intendantin nun saß. 

 

Diese Lesungen an den Originalschauplätzen hatten etwas besonders Berührendes, und man hätte sich ein breiteres Publikum gewünscht. Die Veranstaltung wird nicht wiederholt; sie fand statt im Rahmen des Tages der „offenen Gesellschaft“ statt, der dazu aufruft, dass man in den öffentlichen Raum gehen und sich zeigen solle, um ein Zeichen dafür zu setzen, dass die Menschen besser und offener aufeinander zugehen mögen. Was eignete sich dafür besser, als dieser Spaziergang, der mit einem kleinen Picknick bei Kaffee und Kuchen im Freien vor dem Theater endete!


 

Bereits am morgigen Dienstag geht es mit den Aktionen rund um das Durlacher-Buch weiter. Dann (und am Mittwoch) liest Tina Lipps von 16 bis 17 Uhr aus dem Buch ausgewählte Passagen. Ort: Veranstaltungsraum des Via-Wohnprojekts, Pariser Ring 39. => KLICK