Samstag, 27. Januar 2018

Präsentation


Riesenandrang zur Vorstellung der Aktion:
Lesen, singen, diskutieren, laufen, schreiben


Damit hatten die Veranstalter weder gerechnet noch je davon zu träumen gewagt: Hoffnungslos überfüllt war die Aula des Gymnasiums Hohenbaden am Donnerstagabend, als das Bündnis „Baden-Baden ist bunt“ Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken“ mit einem ergreifenden und unterhaltsamen Programm offiziell vorstellte.

Schon vor Veranstaltungsbeginn füllt sich der Saal, immer mehr Stühle mussten herbeigeschafft werden, einige Unermüdliche, für die wirklich kein Platz mehr war, setzten sich kurzerhand auf die Bühne... Völlig überwältigt war das Bündnis von dieser Resonanz auf die stadtweite Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest ein Buch“.




Dass es bei dieser Aktion ums Mitmachen geht, erfuhr das Publikum gleich zu Beginn am eigenen Leibe, hieß es doch, mitzusingen! Der Klassenlehrer der 8b, Studiendirektor Achim Fessler, schaffte es mühelos, etwaige Bedenken zu zerstreuen: „98 Prozent derjenigen, die meinen, sie könnten nicht singen, haben einfach nur keine Übung“. Das Lied an sich tat sein Übriges: „Wiegala“ von Ilse Weber, das Lied, das sie sang, während sie mit ihrem Kinder in die Gasöfen geführt wurde. 





Das Publikum ließ sich auf das Experiment ein und sang gerne mit, begleitet von Lisa Schwarz aus der 8b auf dem Akkordeon. 

 

Der Schulleiter des Gymnasiums Hohenbaden, Dr. Timon Binder, erinnerte in seiner Ansprache an Leo Wohleb, der zu Beginn der Nazizeit an der Schule Direktor war und alles in seiner Macht Stehende tat, um sich den damals immer stärker werdenden Zwängen der Ausgrenzung jüdischer Schüler zu widersetzen. (Weiterführende Literatur (Bad-Bad.de) => KLICK  und (Wikipedia) =>   KLICK)


Dimetrio-Giovanni Rupp, Schauspieler am Theater Baden-Baden, sorgte für atemlose Stille, als er Szenen aus dem ersten Kapitel des Buches, nämlich „Peterchens Mondfahrt“, vortrug und die Zuhörer unversehens in die Gedankenwelt des damals fünfjährigen Gerhard Durlacher hineinversetzte.




Dramaturgisch perfekt ging es mit der 8b weiter, die wahrlich schlicht und ergreifend am Beispiel des Neujahrsballs umsetzten, welch gemeinen Bösartigkeiten die jüdische Bevölkerung zur damaligen Zeit ausgesetzt war.




Oberbürgermeisterin Margret Mergen zeigte sich in ihrem Grußwort sichtlich berührt von der Aktion und der Umsetzung, mit der etwas gegen das schleichende Gift der Verachtung und die Ablehnung von allem, was einem fremd erscheine, getan werde. Ihre mahnenden Worte wurden umrahmt von Lesevorträgen durch Eva Egloff und Elke Beneke aus dem Verein Leselust, bevor Angelika Schindler vom Arbeitskreis Stolpersteine in einem sehr persönlichen Vortrag das Leben und vor allem das Leiden Durlacher schilderte, der als einziger Auschwitz überlebte, seine Erlebnisse in einen „Panzerschrank der Erinnerungen“ packte und danach Jahrzehnte schweigend weiterlebte, bis sein Gesundheitszustand ihn dazu zwang, sich den Erinnerungen zu stellen und sie aufzuschreiben, um den Alltag wieder bewältigen zu können. 

 

Selbst seine Kinder erfuhren erst durch die Veröffentlichungen (Durlacher schrieb mehrere preisgekrönte autobiographische Werke) von seinem Schicksal, und so ist dieses „ohrenbetäubende Schweigen“ in dieser Familie ein großes Thema, gerade auch für seine Tochter, die bekannte niederländische Schriftstellerin Jessica Durlacher, die übrigens am 8. Mai 2018 zusammen mit ihrer Mutter nach Baden-Baden kommt. Das Bündnis „Baden-Baden ist bunt“ bittet schon heute, sich den Termin vorzumerken. Es wird eine Lesung mit Rahmenprogramm geben, Gastgeber wird das Richard-Wagner-Gymnasium sein. 
 



Dass gerade die neuere Stadt-Geschichte um die Ereignisses vor, während und nach dem Dritten Reich im Bewusstsein der Bevölkerung Baden-Badens fehlt, merkte der Baden-Badener Historiker Dr. Kurt Hochstuhl in seinem Vortrag kritisch an. Er verwies auf nur drei Veröffentlichungen zu diesem Thema und beschrieb, wie im beschaulichen Baden-Baden zwar ebenso wie andernorts während der NS-Zeit ein Klima permanenten Misstrauens geschaffen wurde, der Nationalsozialismus hier im Ort aber in gewisser Weise in Soft-Version dezent im Verborgenen blühte. Im Ergebnis habe dies aber keinen Unterschied gemacht, betonte er und erinnerte an einschneidende Ereignisse 1933 (reichsweiter Judenboykott), an die Pogromnacht 1938 und den Abtransport der jüdischen Bürger aus Baden-Baden am 22. 10 1940 ins Konzentrationslager Gurs. Vieles lief heimlich, blieb aber der Bevölkerung nicht verborgen, betonte Hochstuhl.

Und hier setzte auch die abschließende Performance der 8b ein, die den verhängnisvollen Satz „Ich habe nichts gewusst“ der Nachkriegszeit nachspielte und so beim Publikum für wahre Gänsehautmomente sorgte.

Wie es mit der Mitmach-Aktion weitergehen kann und soll und wie man sich einbringen kann, erklärten zum Abschluss noch Rita Hampp und für den Arbeitskreis Stolpersteine Petra Mallwitz, die für die Aktion "Baden-Baden schreibt ein Buch" Schreibworkshops organisiert und dazu aufrief, sich bei ihr zu melden, wenn man seine eigene Fluchtgeschichte unter professioneller Anleitung aufschreiben möchte. Eine Teilnehmerin des ersten Workshops ermunterte die Anwesenden, sich auf dieses bewegende Erlebnis einzulassen. Die Geschichten werden gesammelt und sollen sowohl im Badischen Tagblatt, also auch auf dieser Webseite veröffentlich werden – es ist auch an eine szenische Lesung ausgewählter Schicksalsmomente im Herbst gedacht - und in weiter Ferne hofft das Bündnis natürlich, diese Erinnerungen als Buch veröffentlichen zu können. Hierfür wird noch ein Kooperationspartner gesucht.

Gerhard Durlachers Buch "Ertrinken - eine Kindheit im Dritten Reich" ist übrigens als Sonderedition gedruckt worden und nur in Baden-Baden erhältlich, und zwar im örtlichen Buchhandel, aber auch im Theater, im Stadtmuseum und in der Stadtbibliothek und vielleicht auch bald in anderen Geschäften in der Stadt. - Geschäftsinhaber können sich hierzu mit Herrn Straß von der gleichnamigen Buchhandlung in Verbindung setzen. Die Bücher können auch in Kommission abgenommen werden. Der Erlös fließt ohne Abzüge direkt in die Aktion und wird Lesungen, Workshops und vielleicht den Druck des Erinnerungsbuches finanzieren.