Riesenandrang zur Vorstellung der Aktion:
Lesen, singen, diskutieren, laufen, schreiben
Damit
hatten die Veranstalter weder gerechnet noch je davon zu träumen
gewagt: Hoffnungslos überfüllt war die Aula des Gymnasiums
Hohenbaden am Donnerstagabend, als das Bündnis „Baden-Baden ist
bunt“ Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken“ mit einem
ergreifenden und unterhaltsamen Programm offiziell vorstellte.
Schon
vor Veranstaltungsbeginn füllt sich der Saal, immer mehr Stühle
mussten herbeigeschafft werden, einige Unermüdliche, für die
wirklich kein Platz mehr war, setzten sich kurzerhand auf die
Bühne... Völlig überwältigt war das Bündnis von dieser Resonanz
auf die stadtweite Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest ein Buch“.
Dass
es bei dieser Aktion ums Mitmachen geht, erfuhr das Publikum gleich
zu Beginn am eigenen Leibe, hieß es doch, mitzusingen! Der
Klassenlehrer der 8b, Studiendirektor Achim Fessler, schaffte es
mühelos, etwaige Bedenken zu zerstreuen: „98 Prozent derjenigen,
die meinen, sie könnten nicht singen, haben einfach nur keine
Übung“. Das Lied an sich tat sein Übriges: „Wiegala“ von Ilse
Weber, das Lied, das sie sang, während sie mit ihrem
Kinder in die Gasöfen geführt wurde.
Das
Publikum ließ sich auf das Experiment ein und sang gerne mit,
begleitet von Lisa Schwarz aus der 8b auf dem Akkordeon.
Der
Schulleiter des Gymnasiums Hohenbaden, Dr. Timon Binder, erinnerte in
seiner Ansprache an Leo Wohleb, der zu Beginn der Nazizeit an der
Schule Direktor war und alles in seiner Macht Stehende tat, um sich
den damals immer stärker werdenden Zwängen der Ausgrenzung
jüdischer Schüler zu widersetzen. (Weiterführende
Literatur (Bad-Bad.de) => KLICK und (Wikipedia) =>
KLICK)
Dimetrio-Giovanni
Rupp, Schauspieler am Theater Baden-Baden, sorgte für atemlose
Stille, als er Szenen aus dem ersten Kapitel des Buches, nämlich
„Peterchens Mondfahrt“, vortrug und die Zuhörer unversehens in
die Gedankenwelt des damals fünfjährigen Gerhard Durlacher
hineinversetzte.
Dramaturgisch
perfekt ging es mit der 8b weiter, die wahrlich schlicht und
ergreifend am Beispiel des Neujahrsballs umsetzten, welch gemeinen
Bösartigkeiten die jüdische Bevölkerung zur damaligen Zeit
ausgesetzt war.
Oberbürgermeisterin
Margret Mergen zeigte sich in ihrem Grußwort sichtlich berührt von
der Aktion und der Umsetzung, mit der etwas gegen das schleichende Gift der Verachtung und die Ablehnung von allem, was einem fremd erscheine, getan werde. Ihre mahnenden Worte wurden umrahmt von
Lesevorträgen durch Eva Egloff und Elke Beneke aus dem Verein
Leselust, bevor Angelika Schindler vom Arbeitskreis Stolpersteine in
einem sehr persönlichen Vortrag das Leben und vor allem das Leiden
Durlacher schilderte, der als einziger Auschwitz überlebte, seine
Erlebnisse in einen „Panzerschrank der Erinnerungen“ packte und
danach Jahrzehnte schweigend weiterlebte, bis sein Gesundheitszustand
ihn dazu zwang, sich den Erinnerungen zu stellen und sie
aufzuschreiben, um den Alltag wieder bewältigen zu können.
Selbst
seine Kinder erfuhren erst durch die Veröffentlichungen (Durlacher
schrieb mehrere preisgekrönte autobiographische Werke) von seinem
Schicksal, und so ist dieses „ohrenbetäubende Schweigen“ in
dieser Familie ein großes Thema, gerade auch für seine Tochter, die
bekannte niederländische Schriftstellerin Jessica Durlacher, die
übrigens am 8. Mai 2018 zusammen mit ihrer Mutter nach Baden-Baden
kommt. Das Bündnis „Baden-Baden ist bunt“ bittet schon heute,
sich den Termin vorzumerken. Es wird eine Lesung mit Rahmenprogramm
geben, Gastgeber wird das Richard-Wagner-Gymnasium sein.
Dass
gerade die neuere Stadt-Geschichte um die Ereignisses vor, während und
nach dem Dritten Reich im Bewusstsein der Bevölkerung Baden-Badens
fehlt, merkte der Baden-Badener Historiker Dr. Kurt Hochstuhl in
seinem Vortrag kritisch an. Er verwies auf nur drei
Veröffentlichungen zu diesem Thema und beschrieb, wie im
beschaulichen Baden-Baden zwar ebenso wie andernorts während der
NS-Zeit ein Klima permanenten Misstrauens geschaffen wurde, der
Nationalsozialismus hier im Ort aber in gewisser Weise in
Soft-Version dezent im Verborgenen blühte. Im Ergebnis habe dies
aber keinen Unterschied gemacht, betonte er und erinnerte an
einschneidende Ereignisse 1933 (reichsweiter Judenboykott), an die
Pogromnacht 1938 und den Abtransport der jüdischen Bürger aus
Baden-Baden am 22. 10 1940 ins Konzentrationslager Gurs. Vieles lief
heimlich, blieb aber der Bevölkerung nicht verborgen, betonte
Hochstuhl.
Und
hier setzte auch die abschließende Performance der 8b ein, die den
verhängnisvollen Satz „Ich habe nichts gewusst“ der
Nachkriegszeit nachspielte und so beim Publikum für wahre
Gänsehautmomente sorgte.
Wie
es mit der Mitmach-Aktion weitergehen kann und soll und wie man sich
einbringen kann, erklärten zum Abschluss noch Rita Hampp und für den Arbeitskreis Stolpersteine Petra Mallwitz, die
für die Aktion "Baden-Baden schreibt ein Buch" Schreibworkshops organisiert und dazu aufrief, sich bei ihr zu
melden, wenn man seine eigene Fluchtgeschichte unter professioneller
Anleitung aufschreiben möchte. Eine Teilnehmerin des ersten
Workshops ermunterte die Anwesenden, sich auf dieses bewegende
Erlebnis einzulassen. Die Geschichten werden gesammelt und sollen
sowohl im Badischen Tagblatt, also auch auf dieser Webseite
veröffentlich werden – es ist auch an eine szenische Lesung
ausgewählter Schicksalsmomente im Herbst gedacht - und in weiter
Ferne hofft das Bündnis natürlich, diese Erinnerungen als Buch
veröffentlichen zu können. Hierfür wird noch ein
Kooperationspartner gesucht.
Gerhard Durlachers Buch "Ertrinken - eine Kindheit im Dritten Reich" ist übrigens als Sonderedition gedruckt worden und nur in Baden-Baden erhältlich, und zwar im örtlichen Buchhandel, aber auch im Theater, im Stadtmuseum und in der Stadtbibliothek und vielleicht auch bald in anderen Geschäften in der Stadt. - Geschäftsinhaber können sich hierzu mit Herrn Straß von der gleichnamigen Buchhandlung in Verbindung setzen. Die Bücher können auch in Kommission abgenommen werden. Der Erlös fließt ohne Abzüge direkt in die Aktion und wird Lesungen, Workshops und vielleicht den Druck des Erinnerungsbuches finanzieren.