Sonntag, 5. August 2018

Stolperstein-Rundgang


Viel zu lange wiegten sich die Juden
in Baden-Baden in trügerischer Sicherheit

Es waren erschütternde, unglaublich tief anrührende Lebensgeschichten, die die Teilnehmer des Stolperstein-Rundgangs durch die Innenstadt von Baden-Baden gestern quasi aus erster Hand erfuhren. 

Die OrganisatorInnen des Stolperstein-Rundgangs: Kulturamtschefin Petra Heuber-Sänger, Buchhändler Josua Straß und die Historikerin Angelika Schindler (von links)


Die Historikerin, Buchautorin und ARTE-Redakteurin Angelika Schindler vom Arbeitskreis Stolpersteine und Buchhändler Josua Straß hatten in mühevoller Kleinarbeit das Schicksal von sieben verfolgten Baden-Badener Juden zusammengetragen und führten nun im Rahmen der Baden-Badener Sommerdialoge eine Gruppe von weit mehr als 30 Interessierten zu den Gedenksteinen beziehungsweise ehemaligen Wohn- und Wirkungsstätten der Betroffenen.



Schreib auf, soviel du kannst, mein Freund,
Aber berichte der Welt nicht nur
Die Zahl der Getöteten.
Weil eine Zahl keinen Namen hat
Und keine geraubte Zukunft.
Berichte der Welt:
Es waren Johann und William
Und Victor und Francesco, die getötet wurden.“

Diese Zeilen des Bosniers Slavko Bronzic, von dem man außer seinem Namen nichts weiß, fand man 1991 in der Tasche eines getöteten Journalisten. Inzwischen ist sein Gedicht zum Motto für Reporter weltweit geworden. 

Für Angelika Schindler war dieses Gedicht auch ein passender Einstieg in die Materie, beschreiben die Worte doch auch das Anliegen ihres Arbeitskreises sehr treffend. 182 Stolpersteine sind in den vergangenen zehn Jahren in Baden-Baden verlegt worden, zu einigen führte gestern der Rundweg. 
 
Die sieben Schicksale, die Angelika Schindler herausgesucht hatte, standen „exemplarisch für das Schicksal vieler Verfolgter in Baden-Baden, für Menschen, die Nachbarn, Patienten, Kunden waren, Menschen, die das Leben der Stadt mitgestalteten und die sehr plötzlich zu Ausgeschlossenen und Opfern eines Willkürstaates wurden.“ 



Wie schnell und überraschend dies damals geschah, verdeutlichte sie am Beispiel von Theodor und Auguste Köhler. Das Ehepaar betrieb vor dem Dritten Reich das Hotel Tannhäuser Hof am Sonnenplatz 1, ein Hotel mit 20 Zimmern und koscherer Küche, das sich auch dadurch auszeichnete, dass es nicht weit von der Synagoge entfernt war. Es kamen vor der Machtergreifung zahlreiche Juden in die Kurstadt und sorgten für florierende Geschäfte nicht nur in der Gastronomie. 
 
Noch 1930 konnten sich die Juden in der Stadt sicher und geachtet fühlen, obwohl nach dem Ersten Weltkrieg andernorts längst die Stimmung in Antisemitismus umgekippt war. Nicht so in Baden-Baden, hier hielt man noch lange das Flair als Kurstadt hoch, die auf viele Gäste unterschiedlicher Herkunft und Religion angewiesen war. So gründete sich noch 1930 beispielsweise eine „Bewegung gegen den Hassgesang“ in der Stadt, und selbst 1933, als das Rathaus nationalsozialistisch wurde, hielt man sich vorerst noch zurück. Man wolle gastfreundlich sein gegenüber allen, egal, welcher Partei, Nation, Religion oder Rasse sie angehörten, wurde verlautbart. „Alle fühlten sich sicher und geschützt“, berichtete Angelika Schindler. 

 

Doch es war eine trügerische Ruhe, die fatal endete, auch für das Ehepaar Köhler. Tochter Ruth bekam es als erste zu spüren: Sie wollte Zahnmedizin studieren, wurde aber plötzlich von der Universität verwiesen. Sie ging daraufhin nach Palästina, schlug sich in der Gastronomie durch und heiratete. Zur Hochzeit kamen auch die Eltern, und sie beschwor Mutter und Vater, bei ihr in Palästina zu bleiben. Doch die beiden hatten Angst. Angst vor der Umstellung, Angst vor der Sprache, Angst auch vor den Arabern, die sich damals gegen den Zuzug der Juden zu wehren begannen. Ein Jahr danach war es bereits zu spät. Am 10. November 1938, am Tag, an dem in Baden-Baden die Synagoge brannte, sandten sie ein Telegramm an die Tochter und baten dringend, sie möge ihnen eine Einladung zur Einreise nach Palästina schicken. Doch die Engländer erlaubten keine Einreisevisa mehr, und so wurden Auguste und Theodor Köhler 1940 nach Gurs deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet.



Auch an das Schicksal des Synagogendieners Louis Weill wurde beim Rundgang erinnert. In dem Zusammenhang las Josua Straß Zitate aus einem Bericht des ehemaligen jüdischen Lehrers vom Gymnasium Hohenbaden, Gerhard Flehinger, vor, der eindrücklich und eindringlich die Schändung der Synagoge am 10. November 1938 beschreibt: „In der Synagoge war alles wie verwandelt. Der heilige Boden des architektonisch so wunderschönen Tempels war von frevlerischen Händen entweiht. Das Gotteshaus wurde zum Tummelplatz schwarzer, uniformierter Horden...“ Die zusammengetriebenen jüdischen Männer mussten das Horst-Wessellied singen, dann zwang man Flehinger, eine Stelle aus „Mein Kampf“ vorzulesen...

Anschließend ging es weiter zum Hotel Central, das sich der Synagoge gegenüber in der Stephanienstraße befand. Noch heute kann man sich gut vorstellen, wie romanisch der Garten des Hotels einst gewesen war.



Aber der Hotelbesitzerfamilie erging es wie vielen anderen Juden in Baden-Baden: Sie wurde am 22. Oktober 1940 am frühen Morgen von Polizisten und Gestapoleuten geweckt, die an den Wohnungstüren der jüdischen Bevölkerung erschienen und sie aufforderten, sofort ihre Sachen zu packen. Wohin die Reise gehen sollte, war völlig unklar. 50 Kilo Gepäck und maximal 100 Reichsmark waren erlaubt, überlegtes Packen war unter diesen Umständen nicht möglich. Die Menschen wurden zu Sammelstellen gebracht und nach dreitägiger Zugfahrt nach Gurs gebracht, ein Internierungslager in Frankreich.

116 Menschen standen auf der offiziellen Baden-Badener Transportliste, zwei Drittel von ihnen waren Frauen über 60 Jahre. Vier Baden-Badener Juden nahmen sich an jenem Morgen das Leben. Ausgenommen von der Deportation waren nur wenige: Juden in „Mischehen“ etwa, oder nicht transportfähige kranke Menschen. Mit 82 Jahren war Synagogendiener Louis Weill der Älteste unter den Deportierten. 

Vergrößerte Fotografien der Betroffenen unterstützten die Aktion anschaulich
 
Mit dabei waren auch Theodor und Liesel Rosenthal und ihr Vater Philipp Lieblich, dem das Hotel Central gehörte. Theodor Rosenthal, der ursprünglich hatte Medizin studieren wollen, dies aber wegen der Rassengesetze aufgeben musste und im Hotel seine Schwiegervaters als Küchenchef arbeitete, schrieb später in sein Tagebuch über die Ereignisse des 22. Oktober 1940: „Ich war um 7 Uhr in die Küche gegangen, um das Frühstück für die Gäste vorzubereiten, aber dann klingelte es an der Tür. Ein Nazi stand dort und sagte, wir müssten in einer Stunde gepackt haben und das Haus verlassen. Ich lief sofort zu Liesel hoch, die noch im Bett lag. … Liesel war im dritten Monat schwanger, griff an ihren Leib und sagte: Das arme Baby, wie wird das nur werden.“ … „Wir rafften förmlich an Kleidungsstücken, was wir gerade aus den Schränken herauszerren konnten und warfen sie in unsere Koffer. Die besten Kleider und Anzüge ließen wir leider zurück. Geistesgegenwärtig dachte ich zumindest noch an die Babywäsche für das ungeborene Kind.“ 

 

Weiter heißt es in den Aufzeichnungen: … „Das Hotel war unser ganzer Lebensinhalt. Es war furchtbar, alles im Stich lassen zu müssen: Die Heimat, die wir so liebgewonnen, zu verlieren, dem vertrauten Heim, dem behaglichen Familientisch entrissen zu werden.“ ... „Das, was wir jahrelang in oft tage- und nächtelanger Arbeit mit so viel Mühe und Schweiß aufgebaut hatten, das sollte mit einem Mal alles zunichte gemacht werden.“

All dies, so Angelika Schindler, geschah keineswegs unter Ausschuss der Öffentlichkeit. Theodor Rosenthal schreibt dazu: „Das Volk betrachtete uns mit spöttischen Blicken, aber diejenigen, die mit uns fühlten, und es sind – wie ich es sehe – nicht wenige, gehen still umher und gaffen uns nicht an wie die anderen.“



Nur wenige Meter neben dem einstigen Hotel Central, im Gebäude des Kaiserhofs, wurde der nächste Stopp eingelegt. Hier liegen die Stolpersteine für die Familie von Joseph Götzel, eines orthodoxen Juden, der, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte, sich zu einem erfolgreichen Teppichhändler hochgearbeitet hatte und sogar in der Lage war, den Kaiserhof zu kaufen. 13 Kinder hatte er mit seiner Frau Malka, Sohn David Gilbert hat später seine Erinnerungen an das streng religiöse Familienleben aufgeschrieben, die Josua Straß vorlas. Hierin heißt es zum Beispiel: „Um uns herum errichtete er (der Vater) eine unsichtbare Mauer, die uns von der Welt und besonders von der deutschen Gesellschaft fernhalten sollte. Das moderne Leben existierte für ihn nicht. Er nahm nichts in Anspruch, was die deutsche Kultur zu bieten hatte: Musik, Bücher, Theater, Filme. Seine Welt war die Tora, der Talmud und die Mischna. …. In der Schule fühlte ich mich ziemlich isoliert. Obwohl ich in Deutschland geboren war, betrachteten mich die Klassenkameraden als russischen Juden. Uns wurde nie die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt, wir waren Bürger zweiter Klasse...“





Weitere Stationen waren die Stolpersteine und Erinnerungen an die Familie Nachmann in der Sophienstraße und an Elsa Wolf, über die es einen akustischen Stolperstein des SWR gibt => KLICK



Der Schlusspunkt des Rundgangs fand auf dem Balkon über dem Bürgerbüro statt, und hier kam auch das Schicksal Gerhard Durlachers zur Sprache. Allerdings wurde nicht aus seinem Buch „Ertrinken“ zitiert, das in diesem Jahr Mittelpunkt der stadtweiten Aktion „Baden-Baden liest ein Buch“ ist, sondern man konnte Bekanntschaft schließen mit seiner energischen Tante Jett aus Holland .. 




... und erfuhr einiges aus dem Seelenleben seiner Töchter. Jessica Durlacher nämlich setzt sich als erfolgreiche niederländische Autorin in mehreren Büchern mit dem Schicksal ihres Vater und der Familie auseinander, Kostproben aus „Der Sohn“ und „Die Tochter“ bezeugten dies.


Wie beglückend die ehrenamtliche Arbeit als Initiatorin der Stolperstein-Aktion sein kann, erfuhr das Publikum zu guter Letzt, als Angelika Schindler ein Foto aus ihrer privaten Sammlung hervorholte: Es ist am 8. Mai 2018 entstanden, als Gerhard Durlachers Witwe Anneke und die Töchter Jessica und Eva bei einer Veranstaltung im Richard-Wagner-Gymnasium zu Gast waren und den Abend in Angelika Schindlers Garten ausklingen ließen.



Eineinhalb Stunden hatte der Rundgang gedauert, und am Ende kam Bedauern auf, dass dieses unvergessliche Ereignis so schnell verflogen war. Für alle, die den Rundgang versäumt haben, gibt es aber vielleicht einen kleinen Hoffnungsschimmer auf eine eventuelle Wiederholung im Herbst. Drücken wir die Daumen, dass dies kein unerfüllter Wunsch bleiben möge! Die Aktion ist es auf jeden Fall wert, wiederholt zu werden. 

Und nun der Wermutstropfen: Wie das so ist in der Ehrenamtsarbeit -  sie kostet die Organisatoren viel Vorbereitungszeit, und am Ende wird etwas Wichtiges vergessen! 

An kühle Getränke für die mittägliche Hitze hatte man gedacht...


... aber erst als die Gäste gegangen waren, fiel Angelika Schindler ein, dass sie ja noch um Spenden hatte bitten wollen, damit auch 2019 wieder Stolpersteine in der Stadt verlegt werden können. Das Kulturbüro hatte aus diesem Grund extra und ausnahmsweise auf die Erhebung von Eintrittsgeldern für diese Veranstaltung verzichtet! Jetzt bleibt also nur die herzliche Bitte: Wenn jemand dies nachholen oder grundsätzlich die Stolperstein-Aktion unterstützen möchte – hier sind die Spendenkonten:

Empfänger: Stadtarchiv Baden-Baden
Verwendungszweck: Stolpersteine (bitte unbedingt angeben)

Sparkasse IBAN: DE25 6625 0030 0000 0108 68
Volksbank IBAN: DE40 6629 0000 0280 1754 04


Im Herbst wird die Veranstaltungsreihe „Baden-Baden liest ein Buch“ mit Vorträgen, Lesungen, Musikdarbietungen und während der interkulturellen Woche zum Laubhüttenfest mit einem Informationsabend über den „jüdischen Alltag heute“ fortgesetzt. Die genauen Termine finden Sie hier => KLICK