Schüler am Gymnasium Hohenbaden
gestalten die große Buchpräsentation
Es
ist still in der Aula des Gymnasiums Hohenbaden. Draußen vor den
großen Fenstern ziehen Regenwolken auf, grau in grau ist der Morgen.
Im
Saal werden Tische verschoben, der große Flügel steht noch im Weg,
letzte Anweisungen folgen, dann nehmen die Schüler ihre Plätze ganz hinten
im Saal ein.
Auf ein Fingerschnippen setzt leises Murmeln ein, unverständlich, nur
ein Wispern zunächst. Die Schüler der 8 b setzen sich in Bewegung, und während sie
nach vorne zur Bühne streben, wird mit jedem Schritt das Gewirr ihrer Stimmen lauter. Dann sind sie vorne, verteilen sich auf der
Bühne und schreien: „Wir haben
nichts gewusst!“ Ein gewaltiger Satz. Ungeheuerlich war und ist er immer noch.
Studiendirektor
Achim Fessler, Musiklehrer am Gymnasium Hohenbaden, ist noch nicht so
ganz zufrieden. Er lässt den Auftritt wiederholen,
dirigiert, fordert heraus, lässt die jungen Akteure über sich
hinauswachsen.
Ausgelöst
durch die Mitmachaktion „Baden-Baden liest ein Buch“ hat er sich
entschlossen, mit seiner Klasse Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken
– eine Kindheit im Dritten Reich“ durchzunehmen und szenisch
umzusetzen. Denn seine Schule wird am kommenden Donnerstag, 25.
Januar, Gastgeber für die offizielle Buchvorstellung sein,
und seine Schüler werden die feierliche Präsentation – neben
Lesepaten des Vereins Leselust in Baden und Schauspielern des
Theaters – mit eindringlichen Darbietungen begleiten.
„Empört
euch“, feuert Fessler die jungen Darsteller an, die zunächst
noch etwas verlegen agieren. „Fühlt euch in die Figuren hinein.
Schlüpft in ihre Rolle.“
Das
ist leichter gesagt als getan.
Und
so unterbricht er die Probe und geht in den Inhalt. „Ihr wisst nun,
wer Gerhard Durlacher war. Ihr habt einen Vortrag über die Nazizeit
gehört“, rekapituliert er. Der Satz „Wir haben nichts gewusst“
sei ein riesiges Thema nach dem Krieg gewesen. Viele hätten nach dem
Krieg nicht den Mut gehabt, den Mund aufzumachen. „Und warum? Warum haben sie
so reagiert?“
Sein
Blick geht in die Runde. Die erste Antworten kommt zögernd: „Weil sie
nicht als Schuldige dastehen wollten.“ Er setzt nach: „Als
Schuldige? Schuldig woran?“
Jetzt
ist es da, das Thema. Die Schüler drucksen herum. „Schuld daran,
das man die Juden nicht gut behandelt hat … Schuld, dass Juden
getötet wurden...“
Fessler
sticht hinein in die Unsicherheit: „Elf Millionen Juden lebten
damals in Europa. Sechs Millionen wurden umgebracht, und Hitlers Ziel
war: Alle umzubringen.“ Auch in Baden-Baden. Stolpersteine liegen
überall im Stadtgebiet, er fordert die Schüler auf, darauf zu
achten, wenn sie später nach Hause laufen.
„Wie
war das damals: Die SS kam und transportierte meinen Nachbarn ab. Ins
Vernichtungslager. Und ich war zu feige, mich dagegen zu stellen.
Meine Feigheit war so groß, dass ich es in Kauf nahm, dass mein
Nachbar vergast wurde.“ Drastisch schildert Fessler, was damals
überall im Land, auch in Baden-Baden, geschah. Nachbarn? „Seht
eure Mitschüler an. Wie würde es euch gehen, wenn man sie abholen
würde und ihr wüsstest, dass sie nie wiederkommen werden?“
Betreten sehen einige Schüler weg, auf den Boden.
Und
wie war es nach dem Krieg? Wie ein Schutzschild habe man den Satz
„Ich wusste nichts, ich habe nichts gewusst“ vor sich her
getragen. Selbst als man die Lager öffnete und die Bevölkerung
zwang, die Toten anzusehen, verteidigten sich viele immer noch,
wiegelten ab. Warum? „Die Konfrontation mit dem Elend war so groß,
dass sie es für sich nicht zulassen konnten zuzugeben, dass sie
dieses Elend zum Teil als Mittäter zugelassen hatten.“ Zu schwer
habe ihre Schuld gewogen.
Also schwiegen sie; aber es hörte nicht auf, denn die nächste Generation kam und
begann zu nachzubohren; beim Abendessen kamen die Fragen auf den
Tisch: „Was habt ihr gemacht während der Nazizeit?“ Und die
Eltern schwiegen oder wurden wütend. Das Thema wurde tabuisiert.
Achim
Fessler sieht seine Schüler an, die im Kreis um ihn stehen. „Wie
würdet ihr in dieser Situation reagieren? Ihr stellt euren Eltern
diese Fragen und sie antworten nicht. Was würdet ihr tun?“, fragt
er. Betroffenes Schweigen, man merkt, wie es in den Jungen und
Mädchen arbeitet.
„Selber
nachforschen, damals halt noch in der Bücherei“, ist eine zaghafte
Antwort, aber auch „Nichts – ich hätte damals Angst vor einer
Ohrfeige gehabt“ und „Deshalb haben wohl die meisten
geschwiegen.“ Die Jugendlichen fühlen sich unwohl, das sieht man
ihnen an.
Fessler hakt ein: „Merkt ihr, wie die Angst euch lähmt?“ Man habe die
Eltern nicht verletzen wollen, und so sei das Thema weiter tabuisiert
worden. Viele aber akzeptierten dieses Tabu nicht und nervten die
Eltern weiter, brachten sie damit zur Weißglut.
Schließlich habe dies 1968 zu den Studentenrevolten geführt.
Fessler will es genau wissen. „Wie fühlt es sich an, Schuld zu
haben?“, fragt er sie. Kloß im Bauch, Enge in de Brust. „Zeigt
es. Geht in diese Rolle rein. Das seid nicht mehr ihr, ihr seid
Stellvertreter jener Generation! Erst verteidigt ihr euch und zum Schluss seid ihr empört.“
Und
so laufen sie ein weiteres Mal in Richtung Bühne. Gesenkten Hauptes,
mit hängenden Schultern und leise murmelnd setzen sie sich
schleppend in Bewegung, immer lauter wird ihr Gemurmel, zeigen sie,
wie sich Schuldbewusstsein in Wut kehren kann. Am Ende stehen sie mit erhobenem Kopf da
und schreien ihre Empörung hinaus, so laut sie nur können: „Wir
haben nichts gewusst!“ Gänsehautmoment. Doch das ist noch nicht das Ende...
Wie es weitergeht, erfahren Sie am nächsten Donnerstag, 25. Januar, um 19.30
Uhr in der Aula des Gymnasiums Hohenbaden, wenn das Bündnis
„Baden-Baden ist bunt“ seine Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest
(und schreibt) ein Buch“ vorstellt und Gerhard Durlachers Buch
„Ertrinken – eine Kindheit im Dritten Reich“ präsentiert.
Schulleiter Dr. Timon Binder und Oberbürgermeisterin Margret Mergen
werden Grußworte sprechen, Dr. Kurt Hochstuhl wird in einem kurzen
Vortrag einen Einblick in Baden-Baden zu NS-Zeit geben, Angelika
Schindler vom Arbeitskreis Stolpersteine wird Buch und Leben
Durlachers vorstellen und Rita Hampp und Petra Mallwitz vom Bündnis
"Baden-Baden ist bunt" werden einen Einblick in die geplanten Aktionen des Jahres 2018
geben.
Für
weitere berührende Momente werden der Verein Leselust in Baden und
Schauspieler des Theaters sorgen. Und auch die Klasse 8 b mit Achim
Fessler hält noch eine Überraschung für die Gäste bereit; nur soviel sei verraten: Es hat etwas mit Musik zu tun und - Mitmachen ist das große Thema der Aktion! In diesem Sinne
ergeht herzliche Einladung an alle Baden-Badener, diese kurzweilige und sicher ergeifende Buchvorstellung
zu besuchen. Der Eintritt ist frei.