Viel zu lange wiegten sich die Juden
in Baden-Baden in trügerischer Sicherheit
Es
waren erschütternde, unglaublich tief anrührende Lebensgeschichten,
die die Teilnehmer des Stolperstein-Rundgangs durch die Innenstadt
von Baden-Baden gestern quasi aus erster Hand erfuhren.
Die OrganisatorInnen des Stolperstein-Rundgangs: Kulturamtschefin Petra Heuber-Sänger, Buchhändler Josua Straß und die Historikerin Angelika Schindler (von links) |
Die
Historikerin, Buchautorin und ARTE-Redakteurin Angelika Schindler vom
Arbeitskreis Stolpersteine und Buchhändler Josua Straß hatten in
mühevoller Kleinarbeit das Schicksal von sieben verfolgten
Baden-Badener Juden zusammengetragen und führten nun im Rahmen der
Baden-Badener Sommerdialoge eine Gruppe von weit mehr als 30
Interessierten zu den Gedenksteinen beziehungsweise ehemaligen Wohn-
und Wirkungsstätten der Betroffenen.
„Schreib
auf, soviel du kannst, mein Freund,
Aber
berichte der Welt nicht nur
Die
Zahl der Getöteten.
Weil
eine Zahl keinen Namen hat
Und
keine geraubte Zukunft.
Berichte
der Welt:
Es
waren Johann und William
Und
Victor und Francesco, die getötet wurden.“
Diese
Zeilen des Bosniers Slavko Bronzic, von dem man außer seinem Namen
nichts weiß, fand man 1991 in der Tasche eines getöteten
Journalisten. Inzwischen ist sein Gedicht zum Motto für Reporter
weltweit geworden.
Für
Angelika Schindler war dieses Gedicht auch ein passender Einstieg in
die Materie, beschreiben die Worte doch auch das Anliegen ihres Arbeitskreises sehr treffend. 182
Stolpersteine sind in den vergangenen zehn Jahren in Baden-Baden
verlegt worden, zu einigen führte gestern der Rundweg.
Die
sieben Schicksale, die Angelika Schindler herausgesucht hatte,
standen „exemplarisch für das Schicksal vieler Verfolgter in
Baden-Baden, für Menschen, die Nachbarn, Patienten, Kunden waren,
Menschen, die das Leben der Stadt mitgestalteten und die sehr
plötzlich zu Ausgeschlossenen und Opfern eines Willkürstaates
wurden.“
Wie
schnell und überraschend dies damals geschah, verdeutlichte sie am
Beispiel von Theodor und Auguste Köhler. Das Ehepaar betrieb vor dem
Dritten Reich das Hotel Tannhäuser Hof am Sonnenplatz 1, ein Hotel
mit 20 Zimmern und koscherer Küche, das sich auch dadurch
auszeichnete, dass es nicht weit von der Synagoge entfernt war. Es
kamen vor der Machtergreifung zahlreiche Juden in die Kurstadt und
sorgten für florierende Geschäfte nicht nur in der Gastronomie.
Noch
1930 konnten sich die Juden in der Stadt sicher und geachtet fühlen,
obwohl nach dem Ersten Weltkrieg andernorts längst die Stimmung in
Antisemitismus umgekippt war. Nicht so in Baden-Baden, hier hielt man
noch lange das Flair als Kurstadt hoch, die auf viele Gäste
unterschiedlicher Herkunft und Religion angewiesen war. So gründete
sich noch 1930 beispielsweise eine „Bewegung gegen den Hassgesang“
in der Stadt, und selbst 1933, als das Rathaus nationalsozialistisch
wurde, hielt man sich vorerst noch zurück. Man wolle gastfreundlich
sein gegenüber allen, egal, welcher Partei, Nation, Religion oder
Rasse sie angehörten, wurde verlautbart. „Alle fühlten sich
sicher und geschützt“, berichtete Angelika Schindler.
Doch
es war eine trügerische Ruhe, die fatal endete, auch für das
Ehepaar Köhler. Tochter Ruth bekam es als erste zu spüren: Sie
wollte Zahnmedizin studieren, wurde aber plötzlich von der
Universität verwiesen. Sie ging daraufhin nach Palästina, schlug
sich in der Gastronomie durch und heiratete. Zur Hochzeit kamen auch
die Eltern, und sie beschwor Mutter und Vater, bei ihr in Palästina
zu bleiben. Doch die beiden hatten Angst. Angst vor der Umstellung,
Angst vor der Sprache, Angst auch vor den Arabern, die sich damals
gegen den Zuzug der Juden zu wehren begannen. Ein Jahr danach war es
bereits zu spät. Am 10. November 1938, am Tag, an dem in Baden-Baden
die Synagoge brannte, sandten sie ein Telegramm an die Tochter und
baten dringend, sie möge ihnen eine Einladung zur Einreise nach
Palästina schicken. Doch die Engländer erlaubten keine Einreisevisa
mehr, und so wurden Auguste und Theodor Köhler 1940 nach Gurs
deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet.
Auch
an das Schicksal des Synagogendieners Louis Weill wurde beim Rundgang
erinnert. In dem Zusammenhang las Josua Straß Zitate aus einem
Bericht des ehemaligen jüdischen Lehrers vom Gymnasium Hohenbaden,
Gerhard Flehinger, vor, der eindrücklich und eindringlich die
Schändung der Synagoge am 10. November 1938 beschreibt: „In der
Synagoge war alles wie verwandelt. Der heilige Boden des
architektonisch so wunderschönen Tempels war von frevlerischen
Händen entweiht. Das Gotteshaus wurde zum Tummelplatz schwarzer,
uniformierter Horden...“ Die zusammengetriebenen jüdischen Männer
mussten das Horst-Wessellied singen, dann zwang man Flehinger, eine
Stelle aus „Mein Kampf“ vorzulesen...
Anschließend
ging es weiter zum Hotel Central, das sich der Synagoge gegenüber
in der Stephanienstraße befand. Noch heute kann man sich gut
vorstellen, wie romanisch der Garten des Hotels einst gewesen war.
Aber
der Hotelbesitzerfamilie erging es wie vielen anderen Juden in Baden-Baden: Sie
wurde am 22. Oktober 1940 am frühen Morgen von Polizisten und
Gestapoleuten geweckt, die an den Wohnungstüren der jüdischen
Bevölkerung erschienen und sie aufforderten, sofort ihre Sachen zu
packen. Wohin die Reise gehen sollte, war völlig unklar. 50 Kilo
Gepäck und maximal 100 Reichsmark waren erlaubt, überlegtes Packen
war unter diesen Umständen nicht möglich. Die Menschen wurden zu
Sammelstellen gebracht und nach dreitägiger Zugfahrt nach Gurs
gebracht, ein Internierungslager in Frankreich.
116
Menschen standen auf der offiziellen Baden-Badener Transportliste,
zwei Drittel von ihnen waren Frauen über 60 Jahre. Vier Baden-Badener
Juden nahmen sich an jenem Morgen das Leben. Ausgenommen von der
Deportation waren nur wenige: Juden in „Mischehen“ etwa, oder
nicht transportfähige kranke Menschen. Mit 82 Jahren war
Synagogendiener Louis Weill der Älteste unter den Deportierten.
Vergrößerte Fotografien der Betroffenen unterstützten die Aktion anschaulich |
Mit
dabei waren auch Theodor und Liesel Rosenthal und ihr Vater Philipp
Lieblich, dem das Hotel Central gehörte. Theodor Rosenthal, der
ursprünglich hatte Medizin studieren wollen, dies aber wegen der
Rassengesetze aufgeben musste und im Hotel seine Schwiegervaters als Küchenchef arbeitete,
schrieb später in sein Tagebuch über die Ereignisse des 22. Oktober
1940: „Ich war um 7 Uhr in die Küche gegangen, um das Frühstück
für die Gäste vorzubereiten, aber dann klingelte es an der Tür.
Ein Nazi stand dort und sagte, wir müssten in einer Stunde gepackt
haben und das Haus verlassen. Ich lief sofort zu Liesel hoch, die
noch im Bett lag. … Liesel war im dritten Monat schwanger, griff an
ihren Leib und sagte: Das arme Baby, wie wird das nur werden.“ …
„Wir rafften förmlich an Kleidungsstücken, was wir gerade aus den
Schränken herauszerren konnten und warfen sie in unsere Koffer. Die
besten Kleider und Anzüge ließen wir leider zurück.
Geistesgegenwärtig dachte ich zumindest noch an die Babywäsche für
das ungeborene Kind.“
Weiter
heißt es in den Aufzeichnungen: … „Das Hotel war unser ganzer
Lebensinhalt. Es war furchtbar, alles im Stich lassen zu müssen: Die
Heimat, die wir so liebgewonnen, zu verlieren, dem vertrauten Heim,
dem behaglichen Familientisch entrissen zu werden.“ ... „Das, was
wir jahrelang in oft tage- und nächtelanger Arbeit mit so viel Mühe
und Schweiß aufgebaut hatten, das sollte mit einem Mal alles
zunichte gemacht werden.“
All
dies, so Angelika Schindler, geschah keineswegs unter Ausschuss der
Öffentlichkeit. Theodor Rosenthal schreibt dazu: „Das Volk
betrachtete uns mit spöttischen Blicken, aber diejenigen, die mit
uns fühlten, und es sind – wie ich es sehe – nicht wenige, gehen
still umher und gaffen uns nicht an wie die anderen.“
Nur
wenige Meter neben dem einstigen Hotel Central, im Gebäude des
Kaiserhofs, wurde der nächste Stopp eingelegt. Hier liegen die
Stolpersteine für die Familie von Joseph Götzel, eines orthodoxen
Juden, der, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte, sich zu einem
erfolgreichen Teppichhändler hochgearbeitet hatte und sogar in der
Lage war, den Kaiserhof zu kaufen. 13 Kinder hatte er mit seiner Frau
Malka, Sohn David Gilbert hat später seine Erinnerungen
an das streng religiöse Familienleben aufgeschrieben, die Josua
Straß vorlas. Hierin heißt es zum Beispiel: „Um uns herum
errichtete er (der Vater) eine unsichtbare Mauer, die uns von der Welt
und besonders von der deutschen Gesellschaft fernhalten sollte. Das
moderne Leben existierte für ihn nicht. Er nahm nichts in Anspruch,
was die deutsche Kultur zu bieten hatte: Musik, Bücher, Theater,
Filme. Seine Welt war die Tora, der Talmud und die Mischna. …. In
der Schule fühlte ich mich ziemlich isoliert. Obwohl ich in
Deutschland geboren war, betrachteten mich die Klassenkameraden als
russischen Juden. Uns wurde nie die deutsche Staatsbürgerschaft
zuerkannt, wir waren Bürger zweiter Klasse...“
Weitere
Stationen waren die Stolpersteine und Erinnerungen an die Familie
Nachmann in der Sophienstraße und an Elsa Wolf, über die es einen
akustischen Stolperstein des SWR gibt => KLICK
Der
Schlusspunkt des Rundgangs fand auf dem Balkon über dem Bürgerbüro
statt, und hier kam auch das Schicksal Gerhard Durlachers zur
Sprache. Allerdings wurde nicht aus seinem Buch „Ertrinken“
zitiert, das in diesem Jahr Mittelpunkt der stadtweiten Aktion
„Baden-Baden liest ein Buch“ ist, sondern man konnte
Bekanntschaft schließen mit seiner energischen Tante Jett aus
Holland ..
... und erfuhr einiges aus dem Seelenleben seiner Töchter. Jessica Durlacher nämlich setzt sich als erfolgreiche
niederländische Autorin in mehreren Büchern mit dem Schicksal ihres
Vater und der Familie auseinander, Kostproben aus „Der Sohn“ und
„Die Tochter“ bezeugten dies.
Wie
beglückend die ehrenamtliche Arbeit als Initiatorin der
Stolperstein-Aktion sein kann, erfuhr das Publikum zu guter Letzt, als
Angelika Schindler ein Foto aus ihrer privaten Sammlung hervorholte:
Es ist am 8. Mai 2018 entstanden, als Gerhard Durlachers Witwe Anneke
und die Töchter Jessica und Eva bei einer Veranstaltung im
Richard-Wagner-Gymnasium zu Gast waren und den Abend in Angelika
Schindlers Garten ausklingen ließen.
Eineinhalb
Stunden hatte der Rundgang gedauert, und am Ende kam Bedauern auf,
dass dieses unvergessliche Ereignis so schnell verflogen war. Für
alle, die den Rundgang versäumt haben, gibt es aber vielleicht einen
kleinen Hoffnungsschimmer auf eine eventuelle Wiederholung im Herbst.
Drücken wir die Daumen, dass dies kein unerfüllter Wunsch bleiben möge! Die Aktion ist es auf jeden Fall wert, wiederholt zu werden.
Und nun der Wermutstropfen: Wie das so ist in der Ehrenamtsarbeit - sie kostet die Organisatoren
viel Vorbereitungszeit, und am Ende wird etwas Wichtiges vergessen!
An kühle Getränke für die mittägliche Hitze hatte man gedacht...
... aber erst als die Gäste gegangen waren, fiel Angelika Schindler ein,
dass sie ja noch um Spenden hatte bitten wollen, damit auch 2019
wieder Stolpersteine in der Stadt verlegt werden können. Das Kulturbüro
hatte aus diesem Grund extra und ausnahmsweise auf die
Erhebung von Eintrittsgeldern für diese Veranstaltung verzichtet! Jetzt bleibt also nur die herzliche Bitte: Wenn jemand dies
nachholen oder grundsätzlich die Stolperstein-Aktion unterstützen
möchte – hier sind die Spendenkonten:
Empfänger:
Stadtarchiv Baden-Baden
Verwendungszweck:
Stolpersteine (bitte unbedingt angeben)
Sparkasse
IBAN: DE25 6625 0030 0000 0108 68
Volksbank IBAN: DE40 6629 0000 0280 1754 04
Volksbank IBAN: DE40 6629 0000 0280 1754 04
Im
Herbst wird die Veranstaltungsreihe „Baden-Baden liest ein Buch“
mit Vorträgen, Lesungen, Musikdarbietungen und während der
interkulturellen Woche zum Laubhüttenfest mit einem
Informationsabend über den „jüdischen Alltag heute“
fortgesetzt. Die genauen Termine finden Sie hier => KLICK