Marathon aus Lust am Lesen:
Drei Stunden der Hitze getrotzt
Hart im Nehmen mussten die Mitglieder des Vereins „Leselust in Baden“ schon sein, als sie am Samstag vor der Buchhandlung Straß Position bezogen, um ein ganzes Buch Kapitel für Kapitel vorzulesen: Tapfer kämpften sie mit Technik...
... Durst, Hitze, Urlauberströmen und gegen den kaum abreißenden Strom von Lieferverkehr und Wildparkern an,
und der Erfolg gab ihnen Recht. Es war - wie gewünscht - ein munteres Kommen und Gehen, eilige Baden-Badener hielten auf ihrem Einkaufsgang kurz oder länger inne, Fremde kamen zögernd näher, und manchmal gab es keine Sitzplätze mehr. Unbeirrt vom Treiben um sie herum vertieften sich die Vorleserinnen in den Text und ließen Szene für Szene eine Kindheit im Dritten Reich wieder auferstehen.
Der Lesemarathon fand im Zuge des Projekts „Baden-Baden liest ein Buch“
statt, in dem sich die ganze Stadt im Rahmen einer Mitmach-Aktion mit
dem Buch „Ertrinken“, Gerhard Durlachers Erinnerungen an seine eigene Kindheit in Baden-Baden während des Dritten Reichs, beschäftigt.
Viele
Aktionen gab und gibt es hierzu in diesem Jahr, das Thema Flucht,
Judenverfolgung und Rassismus wird in Schulen, Familien,
Seniorenheimen, im Rahmen von Vorträgen, Spaziergängen,
Theaterszenen und Filmbeiträgen diskutiert. Der
Verein Leselust in Baden spielt dabei eine tragende Rolle
und ist überall zur Stelle, wo es eine Gelegenheit gibt, Buch und
Thematik vorzustellen.
Hier ist auch stets eine gehörige Portion Pragmatismus und Realismus mit im Spiel. So
hatte die Vorsitzende des Vereins, Eva Egloff, am Samstag auch
angesichts der wegen Urlaubszeit und großer Sommerhitze nahezu
menschenleeren Fußgängerzone einen kühlen Kopf bewahrt und als
erstes für die möglichen Zuhörer Schirme besorgt, die man als
Schattenspender benutzen konnte. Auch die Anzahl der bereitgestellten
Stühle hielt sich im Rahmen, so dass es später beim Kommen und
Gehen des Publikums tatsächlich ab und zu knapp wurde mit
Sitzgelegenheiten unter dem großen Baum vor der Buchhandlung Straß.
Punkt zehn Uhr sollte es losgehen, und ausgerechnet um diese Uhrzeit war weit und breit kein Mensch zu sehen, den Eva Egloff (rechts) mit ihrer kurzen Einführung hätte anlocken können, aber das ließ die Lust am Lesen nicht schwinden.
Später wurde es besser: Immer
wieder ließen sich Passanten nieder, um für ein paar Augenblicke in
das Schicksal des kleinen Gerhard Durlacher einzutauchen, der als
Sechsjähriger gar nicht wusste beziehungsweise nicht einordnen konnte,
was um ihn herum geschah. Er bemerkte nur, wie sich die kleine heile
Welt seiner jüdischen Familie auf regelrecht unheimliche Weise Stück für Stück verdunkelte und die Übergriffe der Nationalsozialisten immer
unverschämter wurden, bis der Familie nichts anderes übrig
blieb, als schweren Herzens die Koffer zu packen und zu Verwandten in
die Niederlande zu fliehen.
Erst
Jahrzehnte später sollte Durlacher – als einziger
Auschwitzüberlebender seiner Familie - noch einmal in die alte
Heimat zurückkehren und angesichts der stereotypen Antwort „Wir
haben nichts gewusst“ auf seine Nachforschungen ein bitteres
Resümee ziehen: „Dies ist kein Land von Blinden, Stummen, Tauben.
Jeder, der hören wollte, konnte hören. Jeder, der sehen wollte,
konnte sehen...“, klagt er angesichts des Schweigens und
Verleugnens, mit dem er konfrontiert wurde.
Nachdenkliche
Mienen und aufmunterndes, beifälliges Kopfnicken waren der Lohn für die
Mitglieder des Vereins, die immerhin mehr als drei Stunden geopfert hatten, um Durlachers Buch
an einem belebten öffentlichen Platz Kapitel für Kapitel vorzulesen
und somit das Thema mitten hinein ins Herz der Stadt zu tragen.
Passend hierzu gibt es übrigens auch einen ergreifenden Film, den Georg von Langsdorff gedreht hat, und der die Originalschauplätze des Buches aufsucht. Hier der Link zum Film "Ertrunken"=> KLICK