Mittwoch, 25. Juli 2018

unterm Kirchendach


Heiß und stickig - unvergesslich!
Lesung unter dem Kirchendach

Es war heiß. Es war stickig. Es war staubig. Es war beklemmend. „Das soll so sein“, erklärte Pfarrer Michael Teipel, und recht hatte er! "Hoch über den Dächern steigt die Angst", hatte er seine Aktion genannt, und damit spielt er auf die Situation verfolgter Menschen an, die sich gerade im Dritten Reich oft auf Dachböden versteckten. Hier konnte man sich zwar sicher fühlen, war aber extremen Beschwernissen ausgesetzt, nicht nur der brütenden Hitze im Sommer und der klirrenden Kälte im Winter. Und wenn man entdeckt wurde, saß man in der Falle. Nachfühlen konnte man all dies bei seiner Lesung unter dem Kirchendach – eine Aktion im Rahmen des stadtweiten Projekts „Eine Stadt liest ein Buch – Gerhard Durlacher: Ertrinken“. 

Da geht es gleich rauf... Pfarrer Teipel vor der Stiftskirche
 
In diesem Buch beschreibt Durlacher seine eigenen Erlebnisse als Kind in Baden-Baden zum Beginn des Dritten Reiches – und Pfarrer Teipel griff diesen Faden mit seiner eindringlichen Lesung unter dem Dach der Stiftskirche am Marktplatz überaus realistisch auf. Trotz der Hitze war   die Veranstaltung ausgebucht.




Wie Stufen waren es bis nach oben? Das hat sicher niemand gezählt, alle 25 Zuhörer waren froh, als sie oben waren. Was für ein Weg das war! Über eine enge Wendeltreppe, über einen Mittelboden, vorbei am Uhrwerk weiter zwei Stiegen hinauf bis unters Gebälk.







Draußen war es waren 30 Grad – drinnen, nun, das kann sich jeder vorstellen.



So konnten es sich die Teilnehmer am eigenen Leib plastisch ausmalen, wie es unter der Naziherrschaft vielen jüdischen Kindern und ihren Familien erging, denen so mancher Dachboden als einziger sicherer (oder auch nur vorübergehend sicherer) Schutz blieb. 

Texte Durlachers und anderer Kinder, so Roald Hoffmann und Anne Frank, beschreiben eindringlich, was es gerade für die Kinder bedeutete, über Wochen, Monate, Jahre eingesperrt zu leben: Essen, trinken, Toilette, herumtoben, sich ausprobieren, laut lachen... nichts war richtig möglich. Die eine lebte sich im Schreiben eines Tagesbuches aus, der andere in akribischen Beschreibungen seiner Welt, wie er sie durch die Lamellen der Fensterläden sah oder wie sie ihm die Mutter anhand von Landkarten schilderte und ihn das auswendig lernen ließ. Hier der Link zu Vita und den Texten von Roald Hoffmann => KLICK




Ja, unterm Kirchendach, auf mehr oder weniger bequemen Hockern in der Gluthitze, wurde schon eine dreiviertel Stunde zur Qual. Umso mehr wurde man von den Texten ergriffen, die Pfarrer Teipel ausgewählt hatte.



Heute müsse sich zum Glück niemand mehr verstecken, gab er den Zuhörern mit auf den Heimweg, und ein Blick aus den kleinen vergitterten Dachluken entschädigte dann schnell für die Strapazen.
Ein unvergessliches Erlebnis – darin waren sich alle Teilnehmer einig.

Die nächste Aktion im Rahmen von "Baden-Baden liest..." ist am Samstag, 4. August, um 10 Uhr eine Marathonlesung vor der Buchhandlung Straß. Der Verein Leselust wird dann Gerhard Durlachers gesamtes Buch "Ertrinken" vorlesen. Einen Tag danach, am 5. August, gibt es ab 11 Uhr einen historischen Stadtspaziergang im Rahmen der Baden-Badener Sommerdialoge. Auch im September sind weitere Aktionen geplant.