Stadtspaziergang auf Durlachers Spuren
Es blieb einem das Wort im Hals stecken...
Man
kann sie noch so oft lesen oder hören – die Passagen in Gerhard
Durlachers Buch „Ertrinken“ gehen immer unter die Haut. Selbst
die Intendantin des Theaters, die ja großes Schauspiel auf der Bühne
gewohnt ist, zeigte sich sichtlich berührt, als sie auf ihrem
Stadtspaziergang an den Schauplätzen des Buches ausgewählte Kapitel
vorlas.
Intendantin Nicola May (rechts) mit Chefdramaturgin Kekke Schmidt beim Stadtspaziergang vor dem Holocaust-Mahnmal. |
Die
Szene beim Silvester-Ball hat es in sich, und da ging bei Nicola May
nichts mehr: Fassungslos musste sie einen Moment pausieren, um sich wieder zu
sammeln. Und ihren Zuhörern erging es nicht anders!
Es
waren nur – oder sagen wir, für einen sommerlichen
Samstagnachmittag bei laufender Fußball-Weltmeisterschaft doch
erstaunliche viele? – knapp 20 Interessierte, die dem unübersehbaren Schild
des Stadtspaziergangs folgten. Die Aktion des Theaters war Teil der
Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest ein Buch“, die auf Initiative
des Bündnisses „Baden-Baden ist bunt“ schon seit Wochen und noch
für Monate die ganze Stadt bewegt. Zahlreiche Kooperationspartner
unterstützen dieses Projekt und beteiligen aktiv daran.
Beginn
des Theater-Spaziergangs war in der Vincenti-Schule, die – bereits 1933! – sehr schnell in
„Adolf-Hitler-Volksschule“ umbenannt worden war. Ein Name, der
übrigens immer noch fest über dem Eingang eingemeißelt ist und bis
heute zu sehen wäre, hätte man nicht den neuen Namen
„Vincenti-Schule“ darübermontiert. Schulleiter Werner Schmall
ließ es sich nehmen, dem Theater und dem interessierten Publikum die
Schule aufzuschließen.
Im
Eingangsbereich gibt es eine kleine Ausstellung zu sehen, eigentlich
für die 125-Jahr-Feier der Schule im vergangenen Jahr
zusammengestellt, aber so ganz fertig ist sie noch nicht. Gerade
„neuere“ Informationen seien schwer zu recherchieren, klagte
Schmall. Immerhin hat er inzwischen die Zeit nach 1933, unter dem
Titel „Als jüdisches Kind in der Adolf-Hitler-Schule“ ergänzt,
aber die Namen der Nazi-Schergen? Fehlanzeige. Oberlehrer Kreis
jedenfalls, der im Buch vorkommt, kam eine sehr ambivalente Rolle zu.
Einerseits war er mitfühlend und vorsichtig, andererseits fehlte ihm
auch der Mut, sich offen gegen das Regime zu stellen.
Was
dem Erstklässler Gerhard Durlacher an seinem ersten Schultag in
dieser Schule widerfuhr und was und wie alles wenig später durch
seine Klassenkameraden eskalierte, das ließ Nicola May in ihrer
Lesung noch einmal aufleben.
Auf
dem Weg zur zweiten Station passierte man das Holocaust-Mahnmal, um
dann am Bismarck-Denkmal, im Angesicht der früheren Möbelhandlung
von Gerhard Durlachers Großeltern (im Gebäude der heutigen Nordsee-Filiale)
zu erfahren, wie perfide jüdischen Gästen auf dem großen Silvesterball
1932/33 mitgespielt wurde.
Im
Theater, wie passend!, die Szene aus Peterchens Mondfahrt, die genau
da spielte, wo die Intendantin nun saß.
Diese
Lesungen an den Originalschauplätzen hatten etwas besonders
Berührendes, und man hätte sich ein breiteres Publikum gewünscht.
Die Veranstaltung wird nicht wiederholt; sie fand statt im Rahmen des
Tages der „offenen Gesellschaft“ statt, der dazu aufruft, dass
man in den öffentlichen Raum gehen und sich zeigen solle, um ein
Zeichen dafür zu setzen, dass die Menschen besser und offener
aufeinander zugehen mögen. Was eignete sich dafür besser, als
dieser Spaziergang, der mit einem kleinen Picknick bei Kaffee und
Kuchen im Freien vor dem Theater endete!
Bereits am morgigen Dienstag geht
es mit den Aktionen rund um das Durlacher-Buch weiter. Dann (und am Mittwoch) liest Tina
Lipps von 16 bis 17 Uhr aus dem Buch ausgewählte Passagen. Ort: Veranstaltungsraum des
Via-Wohnprojekts, Pariser Ring 39. => KLICK