Samstag, 20. Januar 2018

Hohenbaden


Schüler am Gymnasium Hohenbaden
gestalten die große Buchpräsentation

Es ist still in der Aula des Gymnasiums Hohenbaden. Draußen vor den großen Fenstern ziehen Regenwolken auf, grau in grau ist der Morgen.
Im Saal werden Tische verschoben, der große Flügel steht noch im Weg, letzte Anweisungen folgen, dann nehmen die Schüler ihre Plätze ganz hinten im Saal ein.

Auf ein Fingerschnippen setzt leises Murmeln ein, unverständlich, nur ein Wispern zunächst. Die Schüler der 8 b setzen sich in Bewegung, und während sie nach vorne zur Bühne streben, wird mit jedem Schritt das Gewirr ihrer Stimmen lauter. Dann sind sie vorne, verteilen sich auf der Bühne und schreien: „Wir haben nichts gewusst!“ Ein gewaltiger Satz. Ungeheuerlich war und ist er immer noch.

Studiendirektor Achim Fessler, Musiklehrer am Gymnasium Hohenbaden, ist noch nicht so ganz zufrieden. Er lässt den Auftritt wiederholen, dirigiert, fordert heraus, lässt die jungen Akteure über sich hinauswachsen.




Ausgelöst durch die Mitmachaktion „Baden-Baden liest ein Buch“ hat er sich entschlossen, mit seiner Klasse Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken – eine Kindheit im Dritten Reich“ durchzunehmen und szenisch umzusetzen. Denn seine Schule wird am kommenden Donnerstag, 25. Januar, Gastgeber für die offizielle Buchvorstellung sein, und seine Schüler werden die feierliche Präsentation – neben Lesepaten des Vereins Leselust in Baden und Schauspielern des Theaters – mit eindringlichen Darbietungen begleiten.

Empört euch“, feuert Fessler die jungen Darsteller an, die zunächst noch etwas verlegen agieren. „Fühlt euch in die Figuren hinein. Schlüpft in ihre Rolle.“

Das ist leichter gesagt als getan.

Und so unterbricht er die Probe und geht in den Inhalt. „Ihr wisst nun, wer Gerhard Durlacher war. Ihr habt einen Vortrag über die Nazizeit gehört“, rekapituliert er. Der Satz „Wir haben nichts gewusst“ sei ein riesiges Thema nach dem Krieg gewesen. Viele hätten nach dem Krieg nicht den Mut gehabt, den Mund aufzumachen. „Und warum? Warum haben sie so reagiert?“

Sein Blick geht in die Runde. Die erste Antworten kommt zögernd: „Weil sie nicht als Schuldige dastehen wollten.“ Er setzt nach: „Als Schuldige? Schuldig woran?“

Jetzt ist es da, das Thema. Die Schüler drucksen herum. „Schuld daran, das man die Juden nicht gut behandelt hat … Schuld, dass Juden getötet wurden...“

Fessler sticht hinein in die Unsicherheit: „Elf Millionen Juden lebten damals in Europa. Sechs Millionen wurden umgebracht, und Hitlers Ziel war: Alle umzubringen.“ Auch in Baden-Baden. Stolpersteine liegen überall im Stadtgebiet, er fordert die Schüler auf, darauf zu achten, wenn sie später nach Hause laufen. 
 
Wie war das damals: Die SS kam und transportierte meinen Nachbarn ab. Ins Vernichtungslager. Und ich war zu feige, mich dagegen zu stellen. Meine Feigheit war so groß, dass ich es in Kauf nahm, dass mein Nachbar vergast wurde.“ Drastisch schildert Fessler, was damals überall im Land, auch in Baden-Baden, geschah. Nachbarn? „Seht eure Mitschüler an. Wie würde es euch gehen, wenn man sie abholen würde und ihr wüsstest, dass sie nie wiederkommen werden?“ Betreten sehen einige Schüler weg, auf den Boden. 
 
Und wie war es nach dem Krieg? Wie ein Schutzschild habe man den Satz „Ich wusste nichts, ich habe nichts gewusst“ vor sich her getragen. Selbst als man die Lager öffnete und die Bevölkerung zwang, die Toten anzusehen, verteidigten sich viele immer noch, wiegelten ab. Warum? „Die Konfrontation mit dem Elend war so groß, dass sie es für sich nicht zulassen konnten zuzugeben, dass sie dieses Elend zum Teil als Mittäter zugelassen hatten.“ Zu schwer habe ihre Schuld gewogen.

Also schwiegen sie; aber es hörte nicht auf, denn die nächste Generation kam und begann zu nachzubohren; beim Abendessen kamen die Fragen auf den Tisch: „Was habt ihr gemacht während der Nazizeit?“ Und die Eltern schwiegen oder wurden wütend. Das Thema wurde tabuisiert.

Achim Fessler sieht seine Schüler an, die im Kreis um ihn stehen. „Wie würdet ihr in dieser Situation reagieren? Ihr stellt euren Eltern diese Fragen und sie antworten nicht. Was würdet ihr tun?“, fragt er. Betroffenes Schweigen, man merkt, wie es in den Jungen und Mädchen arbeitet. 
 
Selber nachforschen, damals halt noch in der Bücherei“, ist eine zaghafte Antwort, aber auch „Nichts – ich hätte damals Angst vor einer Ohrfeige gehabt“ und „Deshalb haben wohl die meisten geschwiegen.“ Die Jugendlichen fühlen sich unwohl, das sieht man ihnen an.

Fessler hakt ein: „Merkt ihr, wie die Angst euch lähmt?“ Man habe die Eltern nicht verletzen wollen, und so sei das Thema weiter tabuisiert worden. Viele aber akzeptierten dieses Tabu nicht und nervten die Eltern weiter, brachten sie damit zur Weißglut. Schließlich habe dies 1968 zu den Studentenrevolten geführt.

Fessler will es genau wissen. „Wie fühlt es sich an, Schuld zu haben?“, fragt er sie. Kloß im Bauch, Enge in de Brust. „Zeigt es. Geht in diese Rolle rein. Das seid nicht mehr ihr, ihr seid Stellvertreter jener Generation! Erst verteidigt ihr euch und zum Schluss seid ihr empört.“ 
 
Und so laufen sie ein weiteres Mal in Richtung Bühne. Gesenkten Hauptes, mit hängenden Schultern und leise murmelnd setzen sie sich schleppend in Bewegung, immer lauter wird ihr Gemurmel, zeigen sie, wie sich Schuldbewusstsein in Wut kehren kann. Am Ende stehen sie mit erhobenem Kopf da und schreien ihre Empörung hinaus, so laut sie nur können: „Wir haben nichts gewusst!“ Gänsehautmoment. Doch das ist noch nicht das Ende...
 
Wie es weitergeht, erfahren Sie am nächsten Donnerstag, 25. Januar, um 19.30 Uhr in der Aula des Gymnasiums Hohenbaden, wenn das Bündnis „Baden-Baden ist bunt“ seine Mitmach-Aktion „Baden-Baden liest (und schreibt) ein Buch“ vorstellt und Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken – eine Kindheit im Dritten Reich“ präsentiert. Schulleiter Dr. Timon Binder und Oberbürgermeisterin Margret Mergen werden Grußworte sprechen, Dr. Kurt Hochstuhl wird in einem kurzen Vortrag einen Einblick in Baden-Baden zu NS-Zeit geben, Angelika Schindler vom Arbeitskreis Stolpersteine wird Buch und Leben Durlachers vorstellen und Rita Hampp und Petra Mallwitz vom Bündnis "Baden-Baden ist bunt" werden einen Einblick in die geplanten Aktionen des Jahres 2018 geben. 
Für weitere berührende Momente werden der Verein Leselust in Baden und Schauspieler des Theaters sorgen. Und auch die Klasse 8 b mit Achim Fessler hält noch eine Überraschung für die Gäste bereit; nur soviel sei verraten: Es hat etwas mit Musik zu tun und - Mitmachen ist das große Thema der Aktion! In diesem Sinne ergeht herzliche Einladung an alle Baden-Badener, diese kurzweilige und sicher ergeifende Buchvorstellung zu besuchen. Der Eintritt ist frei.